Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Südliches Afrika Südafrika: Wahldebakel für den ANC

Nach der Wahl steht die Regenbogennation vor einer ungewissen Zukunft

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Der südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa senkt seinen Blick während der Bekanntgabe der Ergebnisse der Parlamentswahlen im National Results Operations Centre in der Nähe von Johannesburg, 2. Juni 2024.
Der südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa senkt seinen Blick während der Bekanntgabe der Ergebnisse der Parlamentswahlen im National Results Operations Centre in der Nähe von Johannesburg, 2. Juni 2024. Foto: IMAGO / Kyodo News

«Mit diesen bevorstehenden Wahlen feiern wir unseren demokratischen Weg; sie bestimmen die Zukunft, die wir uns alle wünschen.» Mit diesen Worten kündigte Cyril Ramaphosa im Februar den 29. Mai 2004 als Datum der Parlamentswahl in Südafrika an. Er könnte dabei zwei unterschiedliche Hoffnungen gehegt haben. Als Vorsitzender des regierenden Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) dürfte eine davon gewesen sein, dass seine Partei die Mehrheit der Stimmen gewinnt. Die zweite, die er als Präsident Südafrikas gehegt haben könnte, lag wohl darin, dass die Ergebnisse einige Gewissheit über die politische Zukunft des Landes bieten würden.

Britta Becker ist Referentin Südliches Afrika und Ostafrika bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Fredson Guilengue arbeitet in dem Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung für das Südliche Afrika in Johannesburg.

Keine der beiden Optionen ist eingetreten. Dreißig Jahre lang konnte der ANC im Bündnis mit der Kommunistischen Partei (SACP) und dem Gewerkschaftsbund COSATU die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen. Nun hat die ehemalige Befreiungsbewegung zum ersten Mal überhaupt diese Mehrheit verloren, was die südafrikanische Politik durcheinanderwirbelt. Die Ergebnisse werden die politische Landschaft Südafrikas erheblich beeinflussen, die Wirtschaftspolitik neugestalten, möglicherweise auch die Rolle Südafrikas auf internationalem Parkett ändern und das Signal senden, dass die Ära der nationalen Befreiung im südlichen Afrika zu Ende gehen könnte.

Ein lang erwartetes Debakel

Laut dem endgültigen Wahlergebnis kommt der regierende ANC auf nur rund 40 Prozent der Stimmen, gefolgt von der Demokratischen Allianz (DA) mit 22 Prozent, der neu gegründeten Partei Umkhonto we Sizwe (MK) mit 15 Prozent, den Economic Freedom Fighters (EFF) mit 9,5 Prozent, der Inkatha Freedom Party (IFP) mit 4 Prozent und der Patriotic Alliance (PA) mit 2 Prozent.

Da gemäß der Verfassung des Landes über 50 Prozent der Stimmen erforderlich sind, um eine Regierung zu bilden, wird Südafrika künftig entweder von einer Koalition- oder von einer Regierung der nationalen Einheit geführt werden.

Das Debakel für den ANC kommt wenig überraschend. Der Niedergang der ehemaligen Befreiungsbewegung vollzog sich seit 2009 schrittweise und nahm Anfang dieses Jahres mit der Gründung der MK-Partei um den ehemaligen Präsidenten Jacob Zuma katastrophale Ausmaße an. Umfragen hatten bereits vor der Wahl eine schlechtes Abschneiden der regierenden Partei vorhergesagt. Zuma galt immer als populär in KwaZulu-Natal; das gute Wahlergebnis der MK in Provinzen wie Mpumalanga und Gauteng zeigt jedoch, dass seine Popularität viel größer ist, als bisher angenommen.

Die Niederlage des ANC ist angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Situation im Land mehr als verständlich. Trotz einiger Fortschritte seit dem Ende der Apartheid ist es dem ANC nicht gelungen, die enorme soziale Ungleichheit im Land zu verringern. Sozialprogramme, insbesondere für ältere Menschen und Kinder, sichern das Überleben eines Großteils der Bevölkerung, können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Arbeitslosigkeit, die für die unter 34-Jährigen in Südafrika bei über 50 Prozent liegt, den wirtschaftlichen Fortschritt für Millionen Bürger*innen blockiert. Während das Wohnungsbauprogramm der Regierung Millionen Obdach gewährte, hat es nur wenig zur Bekämpfung der (Armuts-)Segregation beigetragen. Das Programm wird zudem wegen Korruption, Misswirtschaft und schlampiger Bauweise kritisiert.

Südafrika ist zwar auf dem gesamten Kontinent für seine progressive Verfassung bekannt, die der Zivilgesellschaft beispiellose Möglichkeiten bietet, ihre Interessen durchzusetzen. Dennoch haben Kämpfe um Verteilung, Korruption, Kriminalität und Selbstbereicherung, insbesondere seit der Präsidentschaft Jacob Zumas, die Begeisterung für das politische System des Landes in allen Gesellschaftsschichten gedämpft. Viele haben längst jede Hoffnung auf wirtschaftlichen Fortschritt verloren, während die Angst vor einem weiteren Niedergang immer mehr zunimmt.

Die Probleme, die das Land plagen — soziale Ungleichheit, Arbeitslosigkeit und marode Infrastruktur — haben sich in den letzten Jahren noch verschärft. Die Frustration ist daher groß und äußerte sich u.a. in einer sinkenden Wahlbeteiligung, die von 89 Prozent im Jahr 1999 auf 66 Prozent im Jahr 2019 gesunken war. Von den 42,3 Millionen wahlberechtigten Südafrikaner*innen hatten sich diesmal etwa 64 Prozent tatsächlich registriert.  Zwar deutete der Anstieg gegenüber früheren Wahlen darauf hin, dass viele Wähler*innen durchaus motiviert waren, an der Wahl teilzunehmen. Dennoch nutzten letztlich nicht einmal 59 Prozent der registrierten Wähler*innen ihr Stimmrecht – von den 42,3 Millionen Wahlberechtigten nahmen also weniger als 16 Millionen teil. Dies zeigt, dass Frustration und Enttäuschung vieler Südafrikaner*innen am Ende größer waren als die Hoffnung, mit ihrer Stimme Veränderungen bewirken zu können.

Von der nationalen Befreiungsbewegung zum größten Verlierer

Als führende Kraft im Kampf gegen die Apartheid hat der ANC die südafrikanische Politik seit der ersten demokratischen Wahl im April 1994 dominiert. Unter dem Vorsitz von Nelson Mandela sicherte sich die Partei damals fast 63 Prozent der Stimmen. Die Popularität des ANC setzte sich unter Thabo Mbeki fort, der 1999 etwa 66 Prozent der Stimmen erhielt. Trotz unpopulärer wirtschaftlicher Liberalisierung sowie wachsender Kritik und Mobilisierung der Bevölkerung gegen die fragwürdige HIV- und Gesundheitspolitik blieb die Popularität des ANC auch 2004 ungebrochen, die Partei erreichte annähernd 70 Prozent.

Die Kontroversen und wachsenden Spaltungen innerhalb des ANC wurden spätestens während der Konferenz des Nationalen Exekutivkomitees im Dezember 2007 in Polokwane öffentlich sichtbar, als Jacob Zuma Thabo Mbeki besiegte und zum ANC-Vorsitzenden gewählt wurde. Ab diesem Zeitpunkt wurde der «alte» ANC von Mandela und Mbeki zunehmend von Zumas «neuem» ANC verdrängt. Nicht einmal Anschuldigungen wegen Korruption und Vergewaltigung schmälerten dessen Popularität. Konflikte innerhalb des ANC führten letztlich 2008 zu Mbekis Rücktritt vom Präsidentenamt, es folgte eine Übergangsregierung unter Kgalema Motlanthe.

2009 gewann der ANC die Wahlen mit komfortablen 65,9 Prozent der Stimmen, und Jacob Zuma wurde der vierte Präsident des freien Südafrikas. In den folgenden Jahren nahm die Unterstützung für den ANC allmählich ab, was nicht nur auf Veränderungen in den Wählerpräferenzen, sondern auch auf die zunehmende Konkurrenz anderer Parteien zurückzuführen ist. Neben dem Congress of the People (COPE) – einer kleinen Partei, die von Mbeki-Anhänger*innen, die sich vom ANC abgespalten hatten, gegründet wurde – entwickelten sich die 2013 gegründeten Economic Freedom Fighters bald zu einer wachsenden Oppositionspartei. Unter der Leitung des ehemaligen Vorsitzenden der ANC-Jugendliga Julius Malema erreichte die EFF bei der Parlamentswahl 2014 6,4 Prozent. Die zweitgrößte Partei Südafrikas, die Demokratische Allianz, erzielte in jenem Jahr ihr bisher bestes Ergebnis mit 22,2 Prozent der Stimmen. Dennoch konnte der ANC sich erneut eine stabile Mehrheit sichern, mit einem nur leicht reduzierten Stimmenanteil von 62,2 Prozent.

Anders als erhofft, reduzierten sich unter Zuma die negativen Auswirkungen der neoliberalen Wirtschaftspolitik nicht. Stattdessen wurden die Partei und der Staat zunehmend von korrupten ANC-Funktionären geplündert. Ob durch lukrative Staatsaufträge, den Wettbewerb um politische Ämter oder bezahlte Positionen innerhalb des ANC, insbesondere auf lokaler Ebene: Ermöglicht durch den ANC, führte der Zugang zum Staat zu persönlicher Bereicherung. Gleichzeitig schnellte die Zahl der politischen Morde in die Höhe. Die Plünderung des Staates durch die Zuma-Administration (bekannt unter dem Begriff «State capture») und der wachsende Druck innerhalb der Partei führten 2018 zu Zumas Rücktritt.

Cyril Ramaphosa, Vizepräsident unter Zuma und seit 2017 ANC-Vorsitzender, übernahm das Präsidentenamt und wurde 2019 mit 57,5 Prozent bestätigt. Die DA hielt ihr Wählerpotenzial auf ähnlichem Niveau und erzielte 21 Prozent der Stimmen, während die EFF sich deutlich auf 11 Prozent verbesserte. Die Tatsache, dass der Stimmanteil des ANC erstmals unter die 60-Prozent-Marke fiel, wurde zunächst mit einem gewissen Maß an Hoffnung aufgenommen: Einerseits konnte man darin ein klares Zeichen der Kritik angesichts der schwierigen Wirtschaftslage und großen Korruption sehen, andererseits aber auch ein Vertrauensvotum für Ramaphosas Fähigkeit, einen Ausweg zu finden. Kommentator*innen sahen auch die Stärkung der Oppositionsparteien als Zeichen eines demokratischeren politischen Wettbewerbs.

Die mit Cyril Ramaphosa verbundenen Hoffnungen haben sich längst verflüchtigt und sind Zynismus, Wut und Verzweiflung gewichen. Die Zahl der Korruptionsskandale ist weiter gestiegen, insbesondere nach der COVID-19-Pandemie, auch weil die Verantwortlichen, einschließlich Jacob Zuma, juristisch nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. Jede*r kümmert sich nur um sich selbst, während persönliche Bereicherung auf Kosten anderer, Kriminalität und Fremdenfeindlichkeit den gesellschaftlichen Zusammenhalt schwächen. Die Ungleichheit im Land hat ein Rekordniveau erreicht, die wirtschaftliche und soziale Situation ist desolat; überdies brechen Teile der Wasser- und Energieinfrastruktur immer wieder zusammen. Die Versuche der Regierung, die Situation zu verbessern, waren bisher weitgehend erfolglos.

Sturm am Horizont

Diese Wahl könnte allerdings einen Wendepunkt für Südafrika darstellen. Bald wird das Land erstmals von einer Koalitionsregierung regiert. Eine Koalition des ANC mit der EFF und ein oder zwei anderen kleineren Parteien könnte eine Radikalisierung in einzelnen Politikfeldern nach sich ziehen, mit einem Schwerpunkt auf umverteilungspolitische Maßnahmen, einschließlich Landreform, Sozialhilfe und kostenlose Bildung.

Was die globale Rolle Südafrikas betrifft, würde eine ANC-EFF-Koalition Südafrikas Schwenk gen Osten vertiefen und eine stärkere Zusammenarbeit mit Ländern wie China und Russland sowie die fortgesetzte Unterstützung palästinensischer und kubanischer Anliegen begünstigen. Südafrikas Rolle in multilateralen Blöcken wie BRICS+ könnte dadurch wachsen.

Eine Koalition zwischen ANC und DA dürfte hingegen eine eher mitte-rechts gerichtete Sozial- und Wirtschaftspolitik zur Folge haben. Dies würde eine Vertiefung neoliberaler Privatisierungen, eine Verschärfung der Ungleichheit und vor allem wachsende Ausgrenzung und Spaltung bedeuten. Südafrika würde sich seinen traditionellen westlichen Partnern wieder annähern und seine Rolle in BRICS+ erheblich reduzieren. Viele hoffen, dass eine «große Koalition» dem Land – trotz der negativen Auswirkungen für die marginalisierte Bevölkerung – mehr Stabilität bringt. Im Gegensatz zu MK und EFF würde die DA auch nicht auf die Absetzung Ramaphosas als Präsident bestehen.

Im Falle einer ANC-MK-Koalition würde sich in Bezug auf die aktuelle Politik voraussichtlich nicht viel ändern. Diese Koalition könnte jedoch zu Versuchen führen, die Institutionen des Landes, vor allem die Justiz, zu schwächen, um Zuma und seine Verbündeten zu schützen. Nicht abwegig ist die Vermutung, dass die MK-Partei, die hauptsächlich aus dem korrupten Abspaltungsflügel des ANC besteht, verzweifelt versucht, die Verfolgung von Personen, die der Korruption und der Staatskaperung beschuldigt werden, insbesondere Zuma selbst, zu stoppen.

Das schlimmste Szenario für den ANC und Südafrika wäre, wenn die Parteien keine Einigung über die Bildung einer Koalitionsregierung erzielen könnten und Neuwahlen nötig würden. Obwohl dieses Szenario wenig wahrscheinlich ist, dürfte sich in diesem Fall die aktuelle Unsicherheit verlängern und zu einer politischen Krise führen.

Nicht überraschend, aber umso bitterer und enttäuschender für die Regenbogennation, ist die zunehmende ethnische Spaltung im Land. Schwarze Einwandererinnen und Einwanderer werden parteiübergreifend seit Jahren für die sich verschlechternde wirtschaftliche und soziale Situation verantwortlich gemacht, es kommt immer wieder zu fremdenfeindlichen Übergriffen. Entgegen den Erwartungen einiger Analyst*innen spielten fremdenfeindliche Narrative bei dieser Wahl indes keine große Rolle.

Dennoch waren Ethnizität und das Thema Migration wichtige Faktoren für die Wahlentscheidung zugunsten von MK und PA, die ihre Unterstützer*innen größtenteils aus dem Zulu-nationalistischen Lager und KwaZulu-Natal bzw. der marginalisierten «farbigen» Bevölkerung in Western und Northern Cape gewannen. Welche Koalition auch immer Südafrika regieren wird, eines ist sicher: Das Ausmaß an rassistisch motivierter Gewalt hat alarmierende Ausmaße erreicht, und keine politische Kraft scheint willens oder in der Lage, sie einzudämmen.

Die schwere Niederlage, die der ANC bei dieser Wahl erlitten hat, dürfte die Alarmglocken in Mosambik, Namibia, Angola und Simbabwe, wo ebenfalls seit Jahrzehnten ehemalige Befreiungsbewegungen regieren, läuten. Es sendet die klare Botschaft, dass radikale Veränderungen in der Art und Weise, wie ehemalige Befreiungsbewegungen Politik betreiben, notwendig sind. Die Berufung auf historische Vermächtnisse wird nicht ausreichen in einer Zeit, in der die Forderungen der Menschen auf sozioökonomische Themen wie Armut und Ungleichheit, Ökologie und Klimakrise sowie Transparenz und Antikorruption abzielen.

Der ANC dürfte eine weitere Legislaturperiode an der Macht bleiben, aber für die Zukunft ist eines klar: Ein «Weiter so» wird künftig nicht mehr ausreichen.