Dieses Bildungsheft erscheint zu einem Zeitpunkt, zu dem sich viele Akteur_innen in linken Zusammenhängen die gleiche Frage stellen: Was können wir tun, um ein Erstarken von Nationalismus, Kontrollpolitik, rassistischer Hetze, Antisemitismus und anderen Ausgrenzungen in der Gesellschaft aufzuhalten? Zu denken, man müsse «nach unten» treten und «andere» ausschließen, um sich Vorrechte zu sichern, um selbst nichts zu verlieren, um «sicherer» zu leben, scheint vielen – zumindest auf den ersten Blick – leichter zu fallen, als gemeinsame Interessen aufzuspüren und um gleiche Rechte für alle zu ringen. Aber ist das wirklich so? Im «Sommer der Migration» im Jahr 2015 haben wir erlebt, wie sich etliche Menschen bei der Gründung von Unterstützungsnetzwerken und in «Willkommensinitiativen» politisiert und organisiert haben. Viele von ihnen haben begeistert die Solidaritätsarbeit aufgenommen. Sie haben dabei neue Erfahrungen gesammelt und Dinge gelernt, von denen sie vorher teilweise gar nicht wussten, dass sie sie können. Sie haben neue Menschen kennengelernt und dadurch neue Perspektiven auch auf ihr eigenes Leben gewonnen. Aus Interviews mit Willkommensinitiativen geht zudem hervor, dass viele Aktive sehr positiv erlebt haben, dass man kollektiv etwas Größeres schaffen und Erfolge durch selbstorganisiertes Handeln erringen kann. Das Lernen in solidarischen Praxen ist deshalb aus unserer Sicht ein Ansatz, an dem sich die politische Bildung weiter orientieren sollte. Sich gemeinsam stärker zu fühlen, die Freude am Komplizentum zu entdecken, neue Perspektiven zu erkunden und gesellschaftliche Zusammenhänge zu verstehen – das sind Fähigkeiten, die linke politische Bildung befördern kann und die von ihr auch genutzt werden sollten.
Im Feld der Jugendbildung geht es zugleich häufig um die Frage: Wie können wir mit jungen Menschen rassismuskritische, offene solidarische und selbstreflektierte Positionen entwickeln?
Wir als Herausgeberinnen und Autor_ innen sind uns einig darin, dass die Bildungspraxis entscheidend ist: Es geht darum, wie wir Bildungsprozesse gestalten und wie wir voneinander und miteinander lernen. Den Anfang machen wir als politische Bildner_innen dabei selbst. Wir müssen uns politisch bilden und Lernerfahrungen machen, besonders dort, wo wir uns noch nicht auskennen. Lernen bedeutet verunsichern, hinterfragen, sich für andere Erfahrungen öffnen. Was wir brauchen, ist eine Haltung. Anders als in einem zunehmend neoliberal ausgerichteten Bildungssystem, das auf die Konformität von Menschen abzielt, können wir politische Bildung mit Inhalten füllen, die uns etwas bedeuten. Wir können dort Bildung organisieren, wo wir etwas verändern wollen am Status quo. Als linke Bildungsarbeiter_innen haben wir den Vorteil, dass wir in unsere Inhalte politisch und emotional involviert sind. Damit ist uns das Potenzial gegeben, weitere Leute zu begeistern, mitzureißen und darüber Lernbarrieren abzubauen. Denn für viele hat Bildung mit Zwang und Ausschluss zu tun. Die Frage, die wir in jedes Bildungsthema mitnehmen können, wäre also: Was gibt es bei uns zu lernen, das interessanter, schöner, mitreißender ist als in anderen politischen Lagern?
Für diese Ansätze emanzipatorischer Jugendbildung stehen zwei Begriffe: involvierte Pädagogik und eingreifende Praxis. Mit diesem handlungsorientierten Verständnis linker politischer Bildung können wir uns an viele Themen heranwagen und sie uns gemeinsam mit Lerngruppen junger Menschen erschließen. Somit kehrt der Blick auf das vermeintliche Objekt «Jugend» zurück auf uns selbst, auf diejenigen, die loslaufen, um etwas zu bewirken. Das bedeutet auch, dass Lehr-Lern-Verhältnisse sich anders gestalten, als wir es vielleicht gewohnt sind. Es gibt nicht die eine Person im Raum, die auf alles eine Antwort weiß. Sondern es gibt im Team jeweils engagierte Mitstreiter_innen, die von der Lebenswelt und den Erfahrungen der Jugendlichen ausgehend neue Bildungsprozesse anstoßen.
Wie in unserer Bildungspraxis ist es uns auch für das vorliegende Bildungsheft wichtig, uns politisch zu positionieren. Die Bildungsthemen, mit denen wir uns hier auseinandersetzen und für die wir methodische Bausteine formulieren, sind deshalb Themen, zu denen wir selbst politisch und bildnerisch arbeiten, in die wir involviert sind und die uns am Herzen liegen. Mit ihnen richten wir uns an Mitstreiter_innen im linken Bildungsraum, die sich politische Themen und Praxen gemeinsam mit jungen Menschen aneignen und als Teamer_innen, politisch Aktive, Multiplikator_ innen, interessierte Fachkräfte oder Referent_innen Verantwortung für den Bildungsprozess in Lerngruppen übernehmen wollen. Wir haben beispielhaft vier Bereiche ausgewählt, die aus unserer Sicht bildungspolitisch relevant und allgemein von großem Interesse sind.
Treue Leser_innen unserer Reihe Bildungsmaterialien werden bemerken, dass dieses Heft vom Aufbau her leicht verändert ist. Grund dafür ist, dass die Jugendbildung als solche kein thematisches Feld wie «Netzwerken» oder «Intersektionalität» darstellt, sondern eine Zielgruppe bezeichnet. Für die Bildungsarbeit mit der Zielgruppe insbesondere junger Menschen beschreiben wir verschiedene Themenzugänge, bei denen sehr unterschiedliche methodische Herangehensweisen eine Rolle spielen. Diese Breite möchten wir hier auch abbilden, sodass wir Theorie, Methodenbausteine und Serviceteil direkt kapitelweise hintereinander und jeweils zum Thema aufbereiten.
Im ersten Kapitel zeigt Vanessa Höse neue Perspektiven für eine Jugendbildungsarbeit nach dem NSU-Prozess auf. Dabei gilt es, das Ende des NSUProzesses im Sommer 2018 nicht als Schlussstrich, sondern als Weckruf für einen Perspektivwechsel in der Auseinandersetzung mit rechter Gewalt und Rassismus zu begreifen. Für den Jugendbildungsbereich schlägt Höse eine neue Zeitzeugenarbeit vor und greift dabei die Frage auf, wie wir es schaffen können, gleichzeitig Rassismus und rechten Terror zum Thema und eine Betroffenenperspektive sichtbar zu machen. Dafür hat sie Ibrahim Arslan, Überlebender des Brandanschlags in Mölln (1992), interviewt. Seit Jahren besucht er regelmäßig Schulen, um seine Geschichte zu erzählen und mit Jugendlichen über Rassismus zu diskutieren. Ibrahim Arslan hat sich mit den Opfern der NSU-Terrorserie solidarisiert und sich zusammen mit Vanessa Höse und anderen Aktiven für das Tribunal «NSU-Komplex auflösen» (Köln, Mai 2017) engagiert. Vanessa Höse stellt eine digitale Bildungsmethode zu diesem Thema vor, die bereits in Jena und Chemnitz eingesetzt wird.
Aktuell wird in der politischen Bildung viel über Diversität gesprochen. Zu kritischer Bildungsarbeit gehört aus unserer Sicht allerdings auch Ideologiekritik: Diversität zu sehen und anzuerkennen, bildet eine Grundlage für unsere Bildungsarbeit. Zugleich sind Menschen nicht einfach individuell (divers), sondern werden auch durch Armut und strukturelle soziale Ungleichheiten voneinander getrennt und verschieden gemacht. Diese Perspektive möchten wir uns wieder erarbeiten. Jan Niggemann beschäftigt sich deshalb in diesem Heft mit dem Thema «Klasse, Klassismus, Klassenkampf». Sein Beitrag kann mit Lerngruppen diskutiert werden, um Klasse und Klassismus auf die Spur zu kommen. Zudem werden hier zwei methodische Bausteine vorgestellt, die die Bildungsarbeit zum Thema anschaulicher machen und an die Erfahrungen der Teilnehmenden anschließen. Niggemann hat sich mit den eigenen Bildungsprozessen auseinandergesetzt, gibt Seminare zu Fragen von Klasse und Bildung an der Alice-Salomon7 Hochschule und arbeitet im Bereich Kritische Pädagogik. Zur Diskussion um Klasse und Klassismus verweisen wir außerdem auf das Bildungsheft der Rosa-Luxemburg-Stiftung «Intersektionalität », an das wir mit diesem Beitrag anschließen.
In Kapitel 3 diskutieren Katharina Schlaack und Kay Nadolny die Bedeutung selbstverwalteter Jugendzentren für die politische Bildung. Sie plädieren für eine solidarische Unterstützung der Strukturen von Jugendzentren und linken Freiraumprojekten durch die Jugendbildung. Seit den G20-Protesten 2017 in Hamburg und der darauf folgenden Welle von Repressionen haben sich auch die Angriffe von CDU und AfD auf selbstverwaltete Zentren verstärkt. Aus unserer Sicht geht es diesen Akteuren darum, linke Strukturen zu kriminalisieren, um ihnen öffentliche Gelder abspenstig zu machen. Selbstverwaltete Jugendzentren sind seit den 1970er Jahren erkämpfte Freiräume. Es sind nicht-kommerzielle Orte von und für junge Menschen, an denen sie ihre Lebenswelten unabhängig von den formalen Bildungsinstitutionen diskutieren und ihre eigenen Themen setzen können. Aus diesem Grund sehen wir eine Stärkung von selbstverwalteten Jugendzentren als wichtiges Ziel aktueller Praxen im Jugendbildungsbereich an. Im Rahmen der Bildungswoche «Clubfit » haben die Autor_innen bereits Erfahrungen mit der Organisierung linker Jugendklubs in Mecklenburg-Vorpommern gesammelt. Einige Überlegungen hierzu und zwei methodische Bausteine stellen sie in ihrem Beitrag vor.
Mit ihrem Bildungsbaustein zur «Utopie des kommunistischen Begehrens» reagieren Fabian Blunck und Janis Walter auf den aktuellen Zeitgeist, demzufolge die Linke hofft, dass es einmal besser werden wird, aber auch nicht so recht weiß, wie. Aus Hoffnung entsteht Rebellion. Wo aber ist die Utopie? Walter und Blunck stellen ein offenes Konzept für eine Collage-Arbeit vor, mit der Gruppen sich der Frage nähern können, «was wir der Traurigkeit der Gegenwart selbstbewusst und visionär entgegenstellen» wollen. Wie die Utopie auszusehen hat, darauf geben sie keine fertigen Antworten. Mit den Collagen zum kommunistischen Begehren halten sie jedoch eine Idee bereit, wie wir es in der Jugendbildung schaffen können, uns mit Lerngruppen jenen scheinbar fernen Vorstellungsraum wieder anzueignen.
Zu allen hier vorgestellten Methodenbausteinen möchten wir interessierten Multiplikator_innen nahelegen, diese zunächst selbst auszuprobieren, bevor sie direkt in die Gruppe gehen. In Kapitel 3 ist der Kontakt des Bildungsvereins angegeben, der bereits mit der Methode gearbeitet hat und bei Interesse einen Erfahrungsaustausch dazu ermöglichen kann.
Absurd ist, was ist, und nicht zu glauben, dass es anders sein könnte.
(Zitat aus den «Collagen zum kommunistischen Begehren». Die Collagen sind eine Zusammenstellung von Videoclips, Songs und Textfragmenten, die zum Nachdenken und Sprechen über subjektive Utopie-Entwürfe und politische Visionen inspirieren und die im Format einer Abendveranstaltung gezeigt werden. Zu erleben waren die Collagen bislang auf der feministischen Ausstellung «Space Comunism» in Leipzig, auf dem berlinweiten Treffen für junge Menschen, die ihr Freiwilliges Soziales Jahr in Bildungsinstitutionen absolvieren, auf dem Sommercamp 2018 der Linksjugend solid, auf der Veranstaltung über:morgen der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin sowie auf dem Antifa-Kongress Bayern in München.)
Ann-Katrin Lebuhn, Rosa-Luxemburg-Stiftung
Berlin, im März 2019
Inhalt
KAPITEL 1 Jugendbildungsarbeit nach dem NSU
Bildungsbaustein von Vanessa Höse
- Warum es einen Perspektivwechsel in der antirassistischen Jugendbildungsarbeit braucht
- Zeitzeug_innen von morgen. Interview mit Ibrahim Arslan, Überlebender des rechten Brandanschlags von Mölln
- Critical Walks – Geschichte(n) von NSU, Rassismus und Migration auf der Spur
KAPITEL 2 Klasse, Klassismus, Klassenkampf – oben gegen unten und alle gegen alle?
Bildungsbaustein Klasse und Klassismus von Jan Niggemann
- Warum ein Bildungsbaustein zu «Klasse» für die Jugendbildung?
- Was ist «Klasse»?
- Klassenkämpfe – WTF («What The Fuck?»)
- Was ist Klassismus?
- Methode Stopp – Was? – Erklären! Klassismus-sensible Arbeit an (un-)geteilten Auffassungen
- Methode Bullshit-Bingo zu Klasse, Klassismus und Klassenkampf
- Literaturhinweise, Links, Quellen
KAPITEL 3 Jugendbildung und Organisierung am Beispiel des Projekts «Clubfit»
Bildungsbaustein von Kay Nadolny und Katharina Schlaack
- Unser aktuelles Projekt zur Organisierung in Mecklenburg-Vorpommern
- Methodischer Überblick, Arbeitsweisen, Arbeitsblätter
- Literaturhinweise, Links, Quellen
KAPITEL 4 Utopie in der politischen Bildung – Collagen zum kommunistischen Begehren
Bildungsbaustein von Janis Walter und Fabian Blunck
- Utopien finden gegen die Widrigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse
- Methode und Hinweise zum Ablauf
- Collagen zum kommunistischen Begehren als gemeinsamer Prozess
- Weiterführendes
Herausgeberinnen
- Ann-Katrin Lebuhn ist Soziologin und Koordinatorin für Jugendbildung bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. In ihrem Bereich bringt sie emanzipatorische Jugendbildung mit Aktivismus zusammen. Ihre Schwerpunkte sind Jugendbildung und Migration sowie Selbstorganisierung linkspolitischer Räume. Sie arbeitet mit Initiativen, Jugendzentren und Netzwerken im gesamten Bundesgebiet zusammen. 2018 tourte sie mit dem Arbeitskreis Collagen zum kommunistischen Begehren durch die Republik. www.rosalux.de/stiftung/afpb/jugendbildung
Kontakt: ann-katrin.lebuhn@rosalux.org - Vanessa Höse ist promovierte Historikerin und arbeitet derzeit als Projektkoordinatorin am Institut Solidarische Moderne (ISM) in Berlin. Freiberuflich macht sie historisch-politische Bildungsarbeit mit Erwachsenen und Jugendlichen zu den Schwerpunkten Migration und Rassismus. 2015 hat sie das Tribunal «NSU-Komplex auflösen» mitorganisiert und die dort involvierten Jugendprojekte koordiniert und betreut.
Kontakt: vanessahoese@gmail.com
Autor*innen
- Fabian Blunck ist Aktivist und Teil des linXXnet-Kollektivs, das in Leipzig zwei offene Projekt- und Abgeordnetenbüros betreibt. Er gehört zum Team des Arbeitskreises «Collage zur Utopie des kommunistischen Begehrens».
- Vanessa Höse ist Historikerin und arbeitet am Institut Solidarische Moderne in Berlin. Sie hat das Tribunal «NSU-Komplex auflösen» mitorganisiert und macht historisch-politische Bildungsarbeit mit den Schwerpunkten Migration und Rassismus.
- Kay Nadolny ist Bildungsreferent beim Bund Deutscher PfadfinderInnen, Landesverband Mecklenburg-Vorpommern (BDP MV e. V.) und Organizer für sozial-ökologische Initiativen in Rostock.
- Jan Niggemann lehrt an der Alice Salomon Hochschule und arbeitet zu Bildung, Klasse, Emotionen und Affekte. Janek hat für die Rosa-Luxemburg-Stiftung Gramsci-Lesekreise mitgemacht und engagiert sich in der Kritischen Psychologie, vor allem aber in der politischen Bildung für Jugendliche und Erwachsene. Politische Bildung und Rap haben was gemeinsam: Sie brauchen kein Abitur.
- Katharina Schlaack ist politische Bildnerin und Projektmitarbeiterin in der Rosa-Luxemburg-Stiftung Mecklenburg-Vorpommern. Sie engagiert sich in Projekten zu Bürgerbeteiligung und Kommunalpolitik.
- Danilo Starosta ist seit 2005 Berater bei der Fachstelle Jugendhilfe im Kulturbüro Sachsen e.V. – Träger der Mobilen Beratung in Sachsen. Er hat Kommunikations- und Medienwissenschaften, Soziologie und Pädagogik in Dresden und Leipzig studiert.
- Sandra Vacca ist Historikerin und Museologin. Seit 2013 arbeitet sie am Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (DOMiD e.V.), wo sie zurzeit das Projekt «Virtuelles Migrationsmuseum» leitet. Seit 2011 ist sie Vorsitzende des La Talpa e.V. – Verein zur Förderung kritischer Wissenschaften und Bildung.
- Janis Walter ist Aktivist in der politischen Bildung mit den Schwerpunkten Geschichte der sozialen Bewegung und Kritik von Arbeit und Kapitalismus. Er gehört zum Team des Arbeitskreises Collagen zum kommunistischen Begehren.