Nachricht | Iran - Libanon / Syrien / Irak - Türkei Die Region Kurdistan im Irak: Das Ende der Autonomie?

Neuwahl des Parlaments verschoben

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Autorin

Dastan Jasim,

Parlamentsgebäude der Region Kurdistan im Irak in Erbil
Parlamentsgebäude der Region Kurdistan im Irak in Erbil

Eigentlich war für den 10. Juni die Neuwahl des Parlaments der teilautonomen Region Kurdistan im Irak (KRI) angesetzt. Doch im Vorfeld dieses Wahltermins eskalierten die Auseinandersetzungen gleich auf mehreren Ebenen: zwischen den Parteien in der Region, zwischen der Region und der Zentralregierung in Bagdad und zwischen den auswärtigen Regionalmächten.

Als die Menschen in der KRI am 30. September 2018 das bisher letzte Mal zu den Wahlurnen gerufen wurden, war die Region enorm geschwächt. Jahre des Krieges gegen den Islamischen Staat (IS), die internen Auseinandersetzungen zwischen den dominierenden Akteuren, der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), und nicht zuletzt das gescheiterte Unabhängigkeitsreferendum 2017 zerrieben die Autonomie innen- wie außenpolitisch. Die Abstimmung über die Abspaltung der Region führte zu starken Spannungen mit Bagdad wie auch mit den Nachbarstaaten.

Dastan Jasim ist Associate Fellow am German Institute for Global and Area Studies (GIGA) und hat zur politischen Kultur von Kurd*innen im Iran, in Syrien und im Irak promoviert. Sie arbeitet zu verschiedenen Themen der Region sowie zu Islamismus und Antisemitismus.

Die 1991 de facto entstandene Autonomie wurde damals unter schwierigen Bedingungen erschaffen. Nach Jahren des genozidalen Angriffskriegs Saddam Husseins gegen die Kurd*innen im Irak befand sich die Region im Zangengriff des externen, international getragenen Embargos gegen den Irak einerseits und dem internen Embargo des Regimes gegen die Kurd*innen andererseits. Zudem eskalierte die Konkurrenz zwischen der 1946 gegründeten KDP und der 1975 als KDP-Abspaltung gegründeten, eher linksgerichteten PUK zu einem vier Jahre anhaltenden Bürgerkrieg.

In den 2000er Jahren schien sich die Lage dann zu verbessern. Das Regime Saddam Husseins fand durch die US-geleitete Invasion des Irak 2003 sein Ende. In der neuen Verfassung, an deren Aushandlung kurdische Vertreter*innen wesentlich beteiligt waren, wurden der Irak wie auch die KRI als parlamentarische Demokratien definiert.

Das Erbe Saddam Husseins

Was aber die Aushandlung einer guten Verfassung hätte sein können, wurde überschattet von einem politischen Prozess, der von massiven Machtasymmetrien gekennzeichnet war. KDP und PUK mit ihren jeweiligen Streikkräften, den Peshmerga, gewannen nach dem Ende des Regimes ebenso an Macht wie schiitische, vom Iran unterstützte Parteien. Um den neuen Irak aufzubauen, hätten sie Macht an ein gemeinsames politisch-institutionelles System abgeben müssen, aber diesen Schritt wagte keine Seite – auf diese Weise entstand eine Art verfassungsrechtliches Gefangenendilemma. Die regionalen Gewaltmonopole nach Jahren von Krieg und Vernichtung zu vereinen und demokratischer Kontrolle zu unterstellen, erwies sich als schwieriges Unterfangen – nicht zuletzt auch deshalb, weil Washington sich vorrangig auf eine militärische Stabilisierung des Irak konzentrierte.

Als dann schiitische Milizen und terroristische, von Saddam Hussein im Untergrund kreierte und der Nachwelt überlassene, sunnitisch-baathistische Splittergruppen das Land ins Chaos stürzten, einigte man sich darauf, viele die Verfassung betreffende Fragen zu einem späteren Zeitpunkt zu behandeln. Ein prominentes Beispiel hierfür ist der Aufbau des föderalen Obersten Gerichts. Ursprünglich sollte diesem ein sogenannter Verfassungsrat zur Seite gestellt werden, der jedoch nicht zustande kam. Auf Wunsch Washingtons wurde lediglich das Oberste Gericht gebildet, das aus neun Richter*innen besteht und – gemäß dem inoffiziellen Quotensystem des Irak – aus fünf Schiiten, zwei Sunniten und zwei Kurden bestand. Damit aber wurde das Gericht in der Realität ein von seiner schiitischen Mehrheit kontrolliertes Instrument. Dieses Beispiel illustriert, dass der Staatsaufbau in der unmittelbaren Nachkriegssituation zu einem institutionellen Flickenteppich degenerierte – ein Dilemma, das bis heute anhält und auch die politische Form der Autonomie der kurdischen Region maßgeblich prägte.

Zum Zeitpunkt der letzten Parlamentswahl 2018 war dieser dysfunktionale Flickenteppich bereits politische Normalität. Die Konflikte zwischen der Region Kurdistan im Irak und dem schiitischen Camp in Zentralirak, vor allem mit dem damaligen Ministerpräsidenten, Nuri al-Maliki, spitzten sich zu. Zugleich intensivierten sich die Auseinandersetzungen zwischen den beiden kurdischen Parteien. Als dann im Sommer 2014 plötzlich mit dem IS eine fundamentale Gefahr aufkam, wurden die zuvor aufgeschobenen Fragen endgültig hintangestellt – nun wurden alle Kräfte darauf ausgerichtet, den IS zu besiegen.

Die Macht der Familie Barzani

Nach dem Sieg über den IS und der Befreiung vieler kurdischer Gebiete, die ursprünglich nicht der KRI zugewiesen worden waren, verfügte die KRI über eine erweiterte Machtbasis. Es handelte sich um die militärische Lösung eines anderen offenen Themas, denn diese Gebiete waren durch die Arabisierungspolitik Saddam Husseins und die Vernichtungskriege der Anfal-Operation ethnisch gesäubert worden. Laut Verfassung sollten sie eigentlich selbst entscheiden dürfen, zu wem sie gehören wollen. Dieser Vorstoß war jedoch nicht mit Bagdad abgestimmt. Vor diesem Hintergrund wagte der Präsident der KRI, Masud Barzani, mit der Durchführung eines Unabhängigkeitsreferendums einen Coup. Dieses innenpolitische Pokerspiel hatte jedoch drastische Konsequenzen: Denn nachdem die Mehrheit der Kurd*innen für die Unabhängigkeit votiert hatte, überrannten die irakische Armee und die vom Iran unterstützte Miliz Hashd al-Shaabi die kurdischen, vom IS befreiten Gebiete. Letztlich musste also die Bevölkerung, besonders die seit Jahren geplagten Kurd*innen dieser umstrittenen Gebiete, für Barzanis Pokerspiel büßen: Grenzen und Flughäfen waren monatelang geschlossen, die Gehaltszahlungen für Staatsbedienstete blieben aus, und in kurdischen Gebiete, die unter Milizkontrolle standen, kam es zu willkürlichen Verhaftungen und Tötungen.

Aus der Wahl 2019 ging dann Masrur Barzani, der Sohn des von 2005 bis 2019 amtierenden KRI-Präsidenten Masud Barzani, als Ministerpräsident der Region hervor. Er gilt als Hardliner, der im Geheimdienst der KDP, Parastin, politisch ausgebildet wurde – und damit auch an der Seite der iranischen und türkischen Geheimdienste, mit denen die Partei bisweilen gemeinsame Sache macht. Während sein Vorgänger und Cousin, Nechirvan Barzani, der nun zum KRI-Präsidenten aufstieg, ebenfalls als autoritär, aber doch als etwas liberaler gilt, regiert Masrur Barzani mit eiserner Faust. Kritiker*innen der türkischen Angriffskriege und Militärbesatzung kurdischer Gebiete im Norden der Region wurden in Schauprozessen verhaftet und mutmaßlich gefoltert, Studierendenproteste, wie zuletzt im Winter 2021, brutal unterdrückt und innenpolitische Gegner*innen handlungsunfähig gemacht – sogar die PUK bekam dies zu spüren, wie die Entwicklungen rund um diese Wahl zeigen.

Korruption und Wahlbeeinflussung

Der Umstand, dass es der Barzani-Familie immer wieder gelingt, die Macht in der KRI zu behaupten, indiziert, dass der bloße Verweis darauf, dass es sich um demokratische Wahlen handele und korrupte Mandatsträger*innen auch abgewählt werden könnten, nicht ausreicht. Denn zu einen gibt es immer wieder Wahlungereimtheiten, und viele Frustrierte bleiben der Wahl mittlerweile schlicht fern. Zum anderen hat die KDP auch neue Wege gefunden, Wähler*innen für sich zu mobilisieren. Mitglied der KDP zu sein, ist in der KRI nämlich keine bloße politische Präferenz, sondern bedeutet oftmals auch Zugang zu Privilegien, staatlichen Leistungen und Schutz. Ob auf dem Arbeitsmarkt, beim Behördengang oder in Fragen der finanziellen Unterstützung: Eine Mitgliedschaft in der Partei öffnet in der korrupten Verwaltung viele Türen. Die KDP hat auf diese Weise auch viele Binnenflüchtlinge gewonnen – im Gegenzug für den privilegierten Zugang bekommt sie dann deren Stimmen.

Grundsätzlich funktioniert allerdings die PUK ähnlich; sie verfügt nur nicht über Ressourcen in einer vergleichbaren Größenordnung. Bezahlt wird das klientelistische System durch Öleinkommen der beiden Parteien. Die irakische Verfassung regelt zwar, dass die Gewinne aus existierenden Ölquellen durch den Staat umverteilt werden und zu ungefähr 13 Prozent an die KRI gehen; aber die kurdischen Parteien argumentieren, dass die Verfassung den Umgang mit neuen Ölquellen nicht regele; viele davon haben KDP und PUK mithilfe internationaler Ölfirmen gefunden und gefördert. Der Verlust ölreicher kurdischer Gebiete an die Hashd al-Shaabi 2017 machte der PUK aber einen Strich durch die Rechnung, da sie viele dieser neuen Ölquellen wieder einbüßte. Die KDP hingegen kann mithilfe türkischer Pipelinerouten weiterhin ihre Taschen füllen.

Mit Blick auf die Mehrheitsverhältnisse hat die KDP noch ein weiteres Ass im Ärmel, nämlich die sogenannte Minderheitenquote, der zufolge zehn der 111 Abgeordnetenmandate im kurdischen Parlament für «Minderheiten» reserviert sind. In der Praxis werden diese Sitze ausschließlich an Vertreter*innen der turkmenischen und der christlichen Minderheit vergeben, die beide traditionell eng mit der KDP verbunden sind.

Kurdistan als Spielball der Regionalmächte

Seit einiger Zeit setzt die PUK sich nun gegen diese Regelung zur Wehr. Ihre Klage gegen die Minderheitenliste hatte jüngst Erfolg: Das Oberste Gericht entschied im Februar dieses Jahres, dass die Quote nicht verfassungsgemäß und die Größe des Parlaments nicht angemessen sei. Denn laut Wahlgesetz muss es eine*n Abgeordnete für jeweils 30.000 Einwohner*innen geben – dies würde aber bedeuten, dass dem Regionalparlament rund doppelt so viele Abgeordnete angehören müssten.

Unter diesen Umständen erschwert sich die Lage für die KDP erheblich. Da sie ihre bisherigen Praktiken der Wahlbeeinflussung nicht einfach fortsetzten kann, gerät nämlich ihre Parlamentsmehrheit in Gefahr. Sie reagierte prompt und kündigte Mitte März an, die Wahlen zu boykottieren. Am 7. Mai kam es zum Eklat: Masrur Barzani reichte beim Obersten Gericht eine Klage gegen dessen Entscheidung ein, und die irakische Wahlkommission gab bekannt, dass die Vorbereitungen der für den 10. Juni angesetzten Wahlen bis auf Weiteres eingestellt werden. Dagegen klagte dann noch am selben Tag die PUK.

Es ist jedoch keineswegs so, dass die politischen Eliten der KRI nach Belieben entscheiden könnten, wie sie mit der als politisch handlungsunfähig bekannten Autonomieregion umgehen wollen. Das Parlament der KRI ist seit einem Jahr inaktiv, weil das Oberste Gericht in Bagdad entschieden hatte, dass dessen Beschluss zur Verlängerung der eigenen Legislaturperiode nicht verfassungsmäßig sei. Auch aus dem Westen wächst allmählich der Druck, sich politisch zu einigen.

Die größte Einflussnahme erfolgt jedoch seitens des Iran und der Türkei. Der Iran hat kein Problem damit, dass das undemokratische Duopol von KDP und PUK wieder einen Kompromiss findet, da beide Parteien ohnehin von Teheran abhängig sind. Als Nechirvan Barzani Anfang Mai auf einer Pressekonferenz während seines Iran-Besuches ankündigte, die kurdischen Wahlen würden wie vorgesehen stattfinden, sorgte dies bei vielen für Aufregung: Ließ der KRI-Präsident den Ablauf der Wahlen etwa in Teheran absegnen?

Im Unterschied zum Iran gilt die Türkei als KDP-freundlich; sie warf der PUK immer wieder vor, Kämpfer*innen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) freies Geleit zu gewähren. Ankara befürwortet grundsätzlich eine vollständige Ausschaltung der kurdischen Autonomieregion. So arbeitet die türkische Regierung seit Jahren an einer Straßenverbindung und Pipeline nach Bagdad, die durch die nordwestirakische, mehrheitlich turkmenisch bewohnte Stadt Tel Afar führt, um auf diese Weise die KRI und damit die Kurd*innen zu umgehen.

Beim Besuch des türkischen Präsidenten, Recep Tayyip Erdoğan, in Bagdad im April dieses Jahres wurde zudem eine enge ökonomische Zusammenarbeit beschlossen, die einen besseren wirtschaftlichen Verkehr von der arabischen Halbinsel über den Irak und die Türkei nach Europa ermöglichen soll. Beobachter*innen vermuten, dass die Beteiligten ein Gegenmodell zum avisierten Projekt einer Handelsroute von Indien über die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien und Israel zur EU schaffen wollen. Zudem machte Erdoğan deutlich, dass im Juni eine weitere Militäroperation in der Region Gare durchgeführt werde – ein strategischer Punkt in den Bergen Kurdistans, der auch zwischen KDP und PUK umstritten ist.

Wenn man derzeit mit Menschen in der Kurdistan-Region über die aktuelle Lage spricht, stößt man rasch auf ein noch viel düsteres Szenario: Was passiert, wenn nicht der politische Stillstand, sondern gar die Aufhebung der kurdischen Autonomie geplant wird? Nach einem Ende des Stillstands sieht es jedenfalls nichts aus: Die Wahlen wurden einstweilen auf September verschoben, und die KDP behauptet, den Wahlboykott nur dann fallen zu lassen, wenn die Minderheitenquote beibehalten wird.

Die westlichen Länder werden weder Entwicklungen in der KRI noch in Mittelost allgemein vermutlich nicht weiter interessieren; ihnen genügten selbst die jüngsten iranischen Großangriffe auf Israel nicht für eine Verschärfung der eigenen Iran-Politik. Stattdessen stehen alle Zeichen auf Abzug. Die Ankündigung des irakischen Ministerpräsidenten Mohammed Shia' al-Sudani, dass alle UN-Missionen das Land bis 2025 verlassen sollen, spielt dem iranischen Kalkül in die Hände.

Die Türkei wünscht sich ein Szenario, in dem die Unentbehrlichkeit der Türkei für Europa – gerade mit Blick auf die Flüchtlingsabwehr und den Krieg in der Ukraine – mit der Errichtung einer wirtschaftlichen Achse verbunden wird, die die Region Kurdistan langfristig ausblutet. Das aber würde perspektivisch das Ende der iranisch-kurdischen Parteien, die ihre Basen in der KRI haben, das Ende der Präsenz der PKK im Norden der KRI und die Schließung des einzigen offenen Grenzübergangs für Rojava bedeuten, da man kaum davon ausgehen kann, dass Bagdad diesen Akteuren freies Geleit gewähren würde.

Während also in Teilen der Linken die Diskussion über die Präsenz des Westens im Mittleren Osten noch auf dem Stand von 2003 geführt wird, hat die Realität auf dem Boden sie längst überholt. Heute geht es darum, dass der Westen eine Aushandlung zwischen Ankara, Teheran und Riad/Abu Dhabi für bezahlbarer und einfacher hält, als dass man sich dem Problem stellt, dass der Irak inzwischen wenig mehr ist als ein Vasallenstaat der türkischen und iranischen Hegemonie.

Ein Zusammenbruch der Kurdischen Region im Irak ist in diesem Szenario hochgefährlich und würde auch für die Kurd*innen in Syrien und im Iran eine neue Ära der Isolation bedeuten – und zwar nicht nur für die lokalen Eliten, sondern für die gesamte kurdische Bevölkerung. Ihre Lage scheint dieser Tage jedoch nur von geringem geopolitischen Wert zu sein.