Dokumentation «Wir brauchen keinen Abwehrkampf, sondern Gestaltungskampf»

Rund 70 Personen kamen am 24.9.2015 in den Pavillon Hannover, um die Podiumsdiskussion «Geschichte wird gemacht! Arbeit, Organisierung und die Digitale Revolution» zu verfolgen und mitzudiskutieren.

Information

Zeit

24.09.2015

Mit

Ute Demuth, Johannes Katzan, Frank Rieger

Themenbereiche

Ungleichheit / Soziale Kämpfe, Kultur / Medien, Arbeit / Gewerkschaften, Digitaler Wandel

Deutlich wurde, dass die rasant fortschreitende Digitalisierung und Automatisierung von Arbeit durch Gewerkschaften und Linke mitgestaltet werden können und auch müssen. Die Dynamik der Diskussion über die Digitalisierung von Arbeit und Leben muss genutzt werden, um grundlegende Fragen danach, wie wir zusammen leben und arbeiten wollen, zu stellen und gesellschaftlich zu diskutieren.

Auf dem Podium diskutierten: Ute Demuth (politische Bildnerin und Beraterin), Johannes Katzan (Leiter Ressort Angestellte, IT und Studierende, IG Metall), Frank Rieger (Hacker, Autor, Co-Sprecher des Chaos Computer Clubs).

«Mehr Druck, weniger Zwang»
Ute Demuth, die als Bildungsarbeiterin Betriebsräte berät und aktiv in der Organisierung von Solo-Selbständigen engagiert ist, nahm zunächst eine betriebliche Perspektive ein und gab einen Überblick darüber, welche Auswirkungen Digitalisierung und Vernetzung im Betrieb haben. Die Entwicklungen ließen sich mit dem Terminus «Mehr Druck, weniger Zwang» gut umschreiben, meinte sie. Eine Entgrenzung von Arbeit finde statt, Digitalisierung und die weitere Verbreitung von Informations- und Kommunikationstechnologien in Unternehmen führten unter den gegenwärtigen Bedingungen zu Arbeitsverdichtung und Beschleunigung. Gleichzeitig würde mehr Verantwortung für Leistung und für die Qualität der Arbeit an die Einzelnen delegiert. Die gegenwärtige Situation biete aber auch die Chance, mehr Selbstbestimmung und eine neue Unternehmenskultur in den Betrieben zu etablieren.
Außerhalb und innerhalb der Betriebe entstehen zunehmend atypische Beschäftigungsverhältnisse. Die relativ ungeschützte Arbeitsverhältnisse von sogenannten Solo-Selbständigen außerhalb des Betriebs stellten ein gesondertes Problem dar. Bisher sei es noch eine offene Frage, wie Solo-Selbständige dazu motiviert werden könnten, sich zu organisieren, wie Betriebsräte dafür gewonnen werden könnten, sich für Solo-Selbständige zuständig zu fühlen und wie Gewerkschaften, es schaffen könnten, für dies Gruppe von Arbeitnehmer_innen interessant zu sein.
Ute Demuth sprach sich dafür aus, große Ziele und kleine Schritte nicht konkurrierend zu diskutieren und verwies auf die wichtige Rolle gut ausgebildeter und selbstbewusster Betriebsräte bei der Durchsetzung guter Arbeit. Sie verwies darauf, dass gute Arbeit und gutes Leben gegen Widerstände durchgesetzt werden müssten. Das Netz biete eine ausgezeichnete Infrastruktur für das gemeinsame Entwickeln von Ideen, doch letztendlich gäbe es keine Alternative dazu, tatsächlich rauszugehen und den Mund aufzumachen.

«Weg von Wertschöpfungsketten, hin zu Wertschätzungsketten»
Johannes Katzan von der IG Metall stellte sich die Frage, ob gewerkschaftliche Organisierung im herkömmlichen Sinn heute noch zeitgemäß sei. Im Bereich Crowdworking gingen die Gewerkschaften gerade neue Wege, berichtete Katzan. Es werde versucht, Crowdworker_innen über Plattfomen, auf denen sie ihre Auftraggeber_innen bewerten können, zu organisieren. In diesem Bereich arbeiten Gewerkschaften auch zusammen und konkurrieren nicht.
Auch die großen Fragen nach dem guten Leben und guten Arbeiten seien für Gewerkschaften zentral. Sie seien sich aber bewusst, dass die Kämpfe im Kleinen zu führen seien. Betriebsräte könnten mitgestalten und so für gute Arbeit zu sorgen, und wenn Innovationsprozesse von allen Seiten mitgestaltet werden, sei das auch besser für den Betrieb.
Die Ziele gewerkschaftlicher Auseinandersetzungen, sollten mit den direkt Betroffenen, z.B. den Crowdworker_innen entwickelt werden. Im Betrieb selbst, so führte Johannes Katzan mit Verweis auf die gewerkschaftlichen Erfahrungen mit Leiharbeit aus, müsste die gut organisierte Stammbelegschaft die gute Rahmenbedingungen für die neuen Arbeitsverhältnisse gestalten.
Grundlegend müsse bei allem gewerkschaftlichen Handeln der Mensch im Mittelpunkt stehen. Mehr denn je gehe es für Gewerkschaften dabei darum, der Vielfalt in den Arbeitsverhältnissen und Wertvorstellungen innerhalb und außerhalb herkömmlicher Betriebe gerecht zu werden. Das könne nur gelingen, wenn Gewerkschaften für die «großen Claims» stehen, z.B. für Zeitsouveränität.
Die Frage, wie wir arbeiten und leben wollen, könne aber nicht in den Betrieben beantwortet werden, sondern Zielvorstellungen in diesem Bereich müssten in einer gesellschaftlichen Debatte entwickelt werden.
Menschen müssten sich Gewerkschaften aneignen, sie zu ihren Gewerkschaften machen und müssten gemeinsam Wege finden, diese Welt besser zu machen und sich zu diesem Zweck auch mit anderen Kräften und Bewegungen zusammentun. Dazu brauche es Menschen, die bereit sind, sich auch für eine gesellschaftliche Veränderung einzusetzen, und dazu brauche man Bildungsarbeit, die man gemeinsam gestaltet.

«Die Strahlkraft von Alles ist Scheiße! ist gering»
Sobald Arbeit vollständig verstanden und durchdigitalisiert ist, wird sie austauschbar, analysierte Frank Rieger vom Chaos Computer Club. Die Entwicklung gehe dahin, dass gering qualifizierte Tätigkeiten immer weiter dequalifiziert würden. Die exponentiell schneller werdende Technologieentwicklung führe in absehbarer Zeit dazu, dass Arbeitsplätze überflüssig oder unmenschlich würden. Es sei daher geboten, darauf zu reagieren und die Entwicklung mitzugestalten. 
Gesamtgesellschaftlich sei es an der Zeit, über Utopien und Ziele zu sprechen, darüber, in welcher Welt wir wie leben wollen. Während Gewerkschaften sich in kleinteiligen Abwehrkämpfen bewegten, gehe es darum, positive Visionen zu entwickeln und darüber zu einem Verständnis zu gelangen, was gute Arbeit und was ein gutes Leben ist – und diese dann einzufordern.
Sowohl bei der Umsetzung von Digitalisierung im Betrieb als auch bei gesamtgesellschaftlichen Entwürfen werde es nicht die eine Lösung geben, die für alle passt. Die Digitalisierung ermögliche die Individualisierung von Arbeit. Dadurch könne Solidarisierungspotential wegfallen. Insofern stehe Digitalisierung kollektiver Interessenvertretung entgegen.
Durch die fortschreitende Automatisierung und Digitalisierung werden viele Arbeitsplätze wegrationalisiert werden. Dies eröffne die Möglichkeit, die Frage nach der Zentralität von Arbeit in Gesellschaft und im Leben der Einzelnen neu zu stellen, so Rieger. Zeitsouveränität und Handlungsmacht in Bezug auf die eigenen Tätigkeiten seien wesentliche Charakteristika guter Arbeit.
Die Linke sei zur Zeit ohne Idee. Die bestehenden Verhältnisse seien analysiert und für schlecht befunden, doch es gebe keine Verständigung darüber, wo man hin wolle. Die technischen Voraussetzungen und die ökologische Notwendigkeit für die Ablösung des neoliberalen Kapitalismus seien gegeben, meinte Frank Rieger und forderte positive Visionen und davon abgeleitete konkrete Ziele ein.

In der Diskussion mit dem Publikum wurde darauf verwiesen, dass im Kapitalismus die neuen technischen Bedingungen zunächst der herrschenden Klasse nutzten. Diese gestalte die Entwicklung nach ihren Wünschen. Es sei fraglich, wer die handelnden Subjekte in den notwendigen Auseinandersetzungen sein könnten. Belegschaften und auch Erwerbslose müssten in die Kämpfe einbezogen werden. Es gebe hier internationale Traditionen von Widerstand und Aufstand, an die angeknüpft werden könne. Als Strategie wurde vorgeschlagen, bei den Abwehrkämpfen anzufangen und von dort Widerständigkeit aufzubauen.

Auch im Publikum machte sich eine Unsicherheit darüber bemerkbar, welche Arbeitsplätze in Zukunft noch Bestand haben würden. Die neuen Arbeitsverhältnisse wurden als ideal für den Neoliberalismus beschrieben. Die Macht der Unternehmensseite würde dadurch zementiert, dass Menschen nicht mehr permanent angestellt werden müssten, sondern von Fall zu Fall als freie Agenten angeheuert werden könnten. Eine zunehmende Vereinzelung sei die Folge der neuen Arbeitsverhältnisse. Psychische Belastungen entstünden durch neue Organisationsformen, durch Zielvorgaben. Hier sei ein Ansatzpunkt für gewerkschaftliches Handeln, und hier könne auch die Schnittstelle sein, an der Utopie und betriebliche Arbeit zusammenfallen könnten.

Digitalisierung löse bestehende ortsbezogene und betriebsbezogene Kollektive auf, eröffne aber auch die Möglichkeit der Entstehung neuer Kollektivitäten, in denen Individualität und Kollektivität keine Widersprüche mehr seien. Hieran müsse gearbeitet werden, damit Solidarität unter den abhängig Beschäftigten bewahrt werden und neu entstehen könne.

Ute Demuth schloss mit der Bemerkung, dass die der Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien, Vernetzung und  Digitalisierung gestaltet werden müssten. Denn wenn wir das nicht angingen, würden andere es tun. Es sei an der Zeit, Solidarität zu üben und Mechanismen zu finden, wie wir gemeinsam herausfinden, wie wir leben und arbeiten wollen.

Deutlich wurde, dass die großen Veränderungen der Arbeitswelt, die auf uns zukommen, nicht automatisch mit einer Änderung der Machtverhältnisse einhergehen. Die Notwendigkeit der Beteiligung der Beschäftigten an der Entwicklung von Zielen und Strategien wurde allseits anerkannt. Angesichts der Transformation der gesamten Arbeitswelt sind es aber schon lange nicht mehr nur klassisch Beschäftigte, um deren Arbeits- und Lebensverhältnisse es geht und die an der Diskussion beteiligt sein müssen.
Politische Bildung ist dabei zum einen gefragt, Räume zu schaffen, in denen linke Antworten entwickelt werden, können auf die mit der Digitalisierung einhergehenden radikalen Veränderungen im Produktionsprozess und den sozialen Verwerfungen, die auf diese folgen werden, wenn die Gestaltung der Kapitalseite überlassen werden. Zum anderen muss sie dabei mitwirken, dass Strategien für die konkreten Kämpfe innerhalb und außerhalb der Betriebe diskutiert und erarbeitet werden können. Und es muss für internationalen Austausch gesorgt werden.
Eine einseitige Beschäftigung nur mit den Produktionsverhältnissen wäre jedoch ein Rückschritt. Notwendig ist auch die Betrachtung der Auswirkungen der Digitalisierung auf den Bereich gesellschaftlicher Reproduktion, die Kräfteverhältnisse dort und die Auseinandersetzungen, die dort geführt werden.
Abwehrkämpfe sind notwendig, auch wenn ihre Strahlkraft gering ist. Es gilt, darüber hinauszugehen, den umwälzenden Wandel zu gestalten und dafür zu nutzen, das Leben der Menschen zu verbessern: progressiv, nicht konservativ.


Die von Bärbel Reißmann moderierte Veranstaltung war die fünfte Veranstaltung in der Reihe «Schritt für Schritt ins Paradies. Wege aus dem Neoliberalismus», die die Rosa-Luxemburg-Stiftung Niedersachsen gemeinsam mit DGB Bezirk Niedersachsen/Bremen/Sachsen-Anhalt, Kooperationsstelle Hochschule&Gewerkschaften Hannover/Hildesheim, ver.di Bezirk Leine-Weser, IG Metall Hannover, GEW Hannover, Kulturzentrum Pavillon, Arbeit und Leben Nds., ver.di Bildungswerk, Landesarmutskonferenz LAK und der Loccumer Initiative durchführt. Zusätzlicher Rahmen dieser Veranstaltung war das Spamfilter-Festival im Kulturzentrum Pavillon. Im Kontext von «Eine Woche Netzkultur» verstand das «Schritt für Schritt»-Bündnis seine Veranstaltung als einen Beitrag zum Zusammenführen von Materiellem und Digitalem, von sozialen Verhältnissen und technischem Fortschritt.

Audio-Mitschnitte der Veranstaltungen der Rosa-Luxemburg-Stiftung Niedersachsen finden sich hier: https://nds.rosalux.de/veranstaltungen/dokumentationen/audioaufzeichnungen